Wer reist, sieht die Dinge mit der Zeit differenzierter, ruhiger, relativer – könnte man meinen. Oft stimmt das, aber manchmal ist das Gegenteil der Fall. Manche Dinge werden klarer und man hat keine Lust mehr, einen großen Hehl um einfache Sachen zu machen.
So geht es mir etwa beim Thema Flüchtlinge. Seit wir losgefahren sind – im Groben entgegengesetzt der Balkanroute der Syrien- und Afghanistan-Flüchtlinge – fragen uns die Menschen: „Wie seht ihr als Deutsche die Flüchtlinge?“ Am Anfang habe ich lange ausgefeilte humanistische Diskussionen angestrebt. Heute ist das anders.
„They need help, we need people“, „Sie brauchen Hilfe, wir brauchen Leute“, das ist alles, was ich noch antworte. Und so einfach ist es auch. Ich weiß nicht mehr, worum in Deutschland und anderen europäischen Ländern so ein großer Aufstand gemacht wird, warum immer noch diskutiert wird. Wer in Deutschland unter 60 Jahre alt ist und noch ein kleines bisschen Rente haben will, der sollte die Menschen, die zu uns rennen, mit offenen Armen empfangen. Das kann er oder sie gerne in sämtlichen Studien zum Demografischen Wandel nachlesen.
Doch statt die Leute und ihre Kinder aufzunehmen und auszubilden, verschwenden wir dieses riesige Potential und stecken die Familien in überdimensionierte teure Unterkünfte über ganz Europa verteilt und lassen sie dort auf ungewisse Zeit versauern. Im Lager haben sie keine Möglichkeit und vor allem keine Erlaubnis, ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, geschweige denn, ihre Kinder auszubilden. Sie können nur warten.
Was für eine phänomenale Geld- und Zeitverschwendung! Über Jahre hinweg müssen Zelte, Nahrung, Ärzte gestellt werden, ohne dass die Flüchtlinge überhaupt eine Gegenleistung erbringen dürften. Wahrscheinlich wäre es günstiger, für jeden dieser Menschen sechs Monate lang dezentral in Europas Kleinstädten verteilt Wohnung, Essen, Sprachkurs, ärztliche Versorgung, Arbeitserlaubnis und Schulzugang zu bezahlen. Danach würden die allermeisten auf eigenen Beinen stehen, da bin ich mir sicher, so habe ich die Flüchtlinge auf unserer Riese erlebt. Und mittel- und langfristig würden sie beitragen.
Eines dieser Flüchtlingslager ohne Zukunftsperspektive für ihre Bewohner haben wir besucht und als Freiwillige mit angepackt. Wir haben geholfen, die Kleiderausgabe besser zu organisieren und versucht, den Kindergarten zum Laufen zu bringen. Das Camp liegt in Nordgriechenland, wo genau dürfen wir nicht sagen. Wir wurden als Helfer eingelassen, nicht als Journalisten. Es spielt aber auch keine Rolle. Dieses Lager könnte überall in Europa sein, es würde nichts ändern. Jeder hier hat gerade genug schlechtes Essen, ein Zeltdach über dem Kopf und ein bisschen Kleidung. Doch keiner hat eine Perspektive.
Die meisten der Geflohenen hier sind Syrer, daneben eine afghanische Minderheit. Rund sechs Monate bevor wir das Camp erreichten, wurden die 400 Bewohner dort untergebracht, die Hälfte sind Kinder. Ob irgendein europäisches Land sich ihrer annimmt, ist ungewiss. Wenn, dann wohl erst nach Jahren des Rumsitzens und Verantwortlichkeiten und Papiere Herumschiebens. Die 400 Menschen kamen aus dem überfüllten und über die Medien aufgrund der dort herrschenden verheerenden Bedingungen weit bekannt gewordenen Lager in Idomeni. Gut möglich, dass jeder Einzelne hier traumatisiert ist.
Mit ihren traumatischen Kriegserfahrungen und ihrer Verdammnis zur Tatenlosigkeit gehen die meisten Erwachsenen schwer um. Sie werden lethargisch, liegen vor ihren Zelten herum und warten. Das eingezäunte Lager verlassen sie nur selten. Die Kinder sind überfordert und erziehen sich selbst, kennen keine festen Schlaf-, Schul- oder Spielzeiten. Sie sind völlig überdreht und übermüdet, rennen fast den ganzen Tag auf dem großen Gelände umher. Gerade im Sommer sind zahlreiche Freiwillige da, geben ein paar Englisch- und Mathestunden. Doch nur die Hälfte der Kinder geht hin. Und die für zwei Wochen kommenden, ständig wechselnden Ehrenamtlichen sind keine Pädagogen und schon gar keine Psychologen. Die meiste Zeit tollen sie mit den Kleinen herum, statt den Stabilitätsersatz zu liefern, den die traumatisierten Eltern nicht leisten können.
Wir haben junge Leute getroffen, die in Damaskus Philosophie studiert haben, als der Krieg begann. Ärzte, Friseure, Lehrerinnen, Schweißer. Sie alle saßen in ihren Zelten und warteten. Auf irgendeinen Bescheid von irgendwoher, der irgendwann kommt und indem ihnen irgendjemand sagt, wo sie leben dürfen. Die einzigen hoffnungsvollen Gesichter, die wir gesehen haben, gehörten denjenigen, die ankündigten: „Morgen gehen wir nach Athen.“ Soll heißen: Wir verschwinden in der Illegalität. Auf dem legalen Weg haben wir jetzt lange genug gelitten, er bringt uns nirgendwohin. Europa bringt uns nirgendwohin. Täglich war es mindestens eine Familie, die verschwand.
Zwei Mitfreiwillige haben versucht zu erfassen, in welchem Zelt welche Fähigkeiten steckten. So hätte man bei Bedarf sagen können: „Eine Lampe im Warenhaus ist kaputt. Geh’ bitte zu Zelt 64. Dort wohnt Hamid. Er ist Elektriker.“ Wenige Stunden nachdem die beiden Freiwilligen mit ihrer brillanten Idee und der Befragung begonnen hatten, wurden sie durch griechische Soldaten des Camps verwiesen. Der Armee, der das Gelände gehört, erlaubt keine Interviews und keine Datenerhebungen im Flüchtlingslager. Punkt. Als wäre die Lösung der Flüchtlingskrise, dass sich alle Asylsuchenden zu Tode langweilen.
So viel zum Thema Geld. Aber eigentlich ist es noch einfacher. Bei „They need help“, sollte meine Antwort schon aufhören. In Wirklichkeit ist es nämlich sogar noch einfacher. Wir lassen die Menschen an den europäischen Grenzen ertrinken, verhungern, erfrieren, erschießen und vor Erschöpfung umfallen. Das wurde nun schon zehntausend Mal geschrieben, ich traue mich kaum, es nochmal zu sagen und zu riskieren, dass meine Leser spätestens jetzt aufhören zu lesen. Das haben wir alle schon so oft gehört. Aber wieso gibt es diesen Schrecken dann immer noch? Was ist Europa?
Die Geschichten der Menschen im Lager gleichen sich, und doch treibt einen jede einzelne schlaflose Nächte lang um. Da ist ein 18-jähriger Syrer, der seine gesamte große Familie in einem einzigen Bombenangriff verloren hat – Eltern, Geschwister, Großeltern. Lediglich er und sein jüngerer Bruder blieben am Leben. Ein entfernter Onkel schickte aus dem Ausland Geld – genug für die Flucht einer der beiden Brüder. Der 18-Jährige floh, um seinen Jüngeren nachzuholen. Doch zwei Tage nach der Flucht kommt auch der Zurückgelassene im Bombenhagel um, wie der 18-Jährige später erfährt. Jetzt ist er allein. Ohne jeden Kontakt zu Verwandten oder Freunden in einem Flüchtlingslager in einem fremden Land, das ihn nicht haben will. Er kann nicht zurück, dort ist nur noch der Tod. Und vor ihm ziehen die osteuropäischen Staaten ihre Grenzzäune. Er sitzt fest. Wie viel soll ein 18-Jähriger ertragen?
Eine andere Familie konnte gemeinsam fliehen. Zu Fuß, durch den Schnee, bei Nacht, 16 Stunden ohne Stopp liefen sie über die Berge von Afghanistan in den Iran – mit drei kleinen Kindern von denen eines gerade laufen gelernt hatte. Weil die Taliban eine Frau, die es zur Schuldirektorin gebracht hat, wie die Mutter der Familie, nicht leiden können. Und weil sie auch sonst im Zwist mit der Familie liegen. Kann es irgendjemand geben, der noch immer glaubt, diese Menschen würden das freiwillig machen? Weil ihnen der Job in Deutschland besser gefallen könnte?
Wenn unsere ganze Menschlichkeit nicht mehr ausreicht, um diese mutigen Menschen weinend und mit offenen Armen zu empfangen, dann doch wenigstens für uns selbst. Weil die 13-jährige Tochter auf der Flucht fließend Englisch gelernt hat, unfassbar schnell aufnimmt und gerne Ärztin sein möchte. Damit sie unsere Steuern zahlt.
Freue mich so ,dass ihr mit dem Schreiben und mit den Bildern weitermacht.
Das Thema unfaßbar bedrückend.