Mitten auf dem Bahnhofsvorplatz von Görz verläuft die Grenze. Hier Slowenien, dort Italien. Eine Linie am Boden, ein paar Blumenkästen, eine Plakette: Fertig ist der kleine Grenzübergang. Eine Fußgängerin kommt aus dem slowenischen Bahnhofsgebäude und marschiert geschäftigen Schrittes die Treppe hinunter und ins andere Land. Eine Hundebesitzerin entscheidet über ihre Gassiroute nicht aufgrund so profaner Dinge wie Staaten, sie spaziert hin und zurück.
Die Europäische Union hat, so könnte man meinen, einen Ort wieder zusammengeflickt, der 1947 geteilt wurde. Nach dem zweiten Weltkrieg ging der überwiegende Teil der Stadt Görz an Italien, ein kleinerer an das damalige Jugoslawien. Man entschied sich für eine Grenzziehung nicht entlang natürlicher Barrieren wie Flüsse oder Bergketten, sondern entlang der Eisenbahnlinie. Doch diese verlief und verläuft direkt durch Wohngebiete, teilweise mitten durch Grundstücke. Erst 1975 kam es zu kleinen Anpassungen der Grenze; etwa, damit Bauern nicht länger von ihren Feldern abgeschnitten blieben. 1991 erlangte Slowenien seine Unabhängigkeit, 2004 wurde das Land EU-Mitglied. Seitdem ist die Grenze nur noch eine Linie, die man jederzeit überfahren, übergehen kann.
Doch was ist an dieser romantischen Einheitsvorstellung wirklich dran? Wie weit reichen die Gemeinsamkeiten nach den Jahren der Trennung? „Oh, es sind zwei Städte“, die junge blonde Frau in der Touristeninformation von Nova Gorica, so nennt sich der slowenische Teil heute, lächelt und spricht in einem freundlich erklärenden Ton. „Gorizia in Italien ist alt. Hier, in Nova Gorica, ist alles anders, neu.“
Tatsächlich wirkt die slowenische Stadt auf den ersten Blick eher abschreckend. Denn als Jugoslawien 1947 nur den kleinen, nord-östlichen Teil der Stadt zugesprochen bekam, reagierte es trotzig und baute kurzerhand daran anschließend ein neues Görz. Nova Gorica besteht zu einem nicht unwesentlichen Teil aus 60er-Jahre-Plattenbauten und heute vor allem einem: Casinos.
So spielt sich das Nachtleben des „slowenischen Las Vegas“, wie Nova Gorica auch genannt wird, viel in Spielhallen gigantischen Ausmaßes ab. Im größten, dem Hotel und Casino Perla, warten 730 Spielautomaten und rund 40 Spieltische auf die Besucher. Über zu geringen Andrang können sich die Betreiber nicht beklagen. An einem Sonntagabend wirkt die Innenstadt draußen wie ausgestorben, doch im Perla tummeln sich die Menschen um blinkende Automaten, Roulette- und Black-Jack-Tische.
Auf edel getrimmt und extrem warm geheizt erwartet das Etablissement seine Spieler. An der Wand hängt Werbung für Sonderangebote für Besucher „50+“. Von fröhlicher Stimmung ist nichts zu spüren. Mit ernster Miene verprassen ältere Damen an den einarmigen Banditen ihr Geld. Ein rundlicher Italiener mit elegantem Schal wirft in letzter Sekunde vor dem Fall der Roulettekugel einen 50-Euro-Schein auf die 34. Der Croupier hat keine Zeit in Chips umzutauschen, da ist das Geld auch schon verloren. Der Spieler wendet sich ab, er spielt an mehreren Tischen gleichzeitig. Im Pokerraum findet ein Tournier statt. Hier sitzen eher die jüngeren Männer und starren müde und teils mit unterlaufenden Augen auf die Tische. Wie edel und sauber das Casino auch sein mag, über manch verbrauchten Gesichtsausdruck täuscht nichts hinweg.
Doch auch wer nicht auf Spielhöllen aus ist, tut Nova Gorica unrecht, sich nun gleich wieder von der Stadt abzuwenden. Denn draußen wartet die echte Stadt, mit netten Kneipen wie der „Bar Garfield“ und Straßenimbissen wie dem „Burek Gorica“. Hier gibt es schmackhaftes Essen, einheimisches Bier und günstigen Cappuccino. Sogar ein Theater mit eigenem Ensemble hat die Stadt heute. Die Menschen sind freundlich, bemüht und offen gegenüber Fremden. Eine Bereicherung für jeden Reisenden.
Auf der anderen Seite der Grenze läuft das Leben etwas anders ab, obgleich die Menschen nicht minder freundlich sind. Unter dem Namen Gorizia wurde der italienische Teil der Stadt zur Hauptstadt einer gleichnamigen Provinz. Die Altstadt mit ihrem Piazza della Vittoria, dessen Ursprünge auf das 15. Jahrhundert zurück gehen, alten Kirchen und Brunnen schmiegt sich an den Berg, auf dem das imposante Castello steht. Cafés und Geschäfte laden zum verweilen ein. Dennoch wirkt so mancher Straßenzug eher leer und ausgestorben.
Gorizia und Nova Gorica sind wahrhaft unterschiedliche Städte. Die Menschen sprechen andere Sprachen, zahlen im Supermarkt andere Preise und leben nach anderen nationalen Gesetzen. Letzteres zeigt einen der größten Unterschied zum wiedervereinten Berlin auf.
Immerhin, man kommt gut aus. Ein Verkäufer im slowenischen D’obro-Imbiss erzählt: „Die Italiener kommen her zum Essen, wir fahren rüber zum Shoppen. Es gibt keine Probleme.“ Und eines teilen sich die Gorizianer und die Nova Goricaner ja auch immerhin: den Bahnhofsvorplatz – obgleich auffällt, auf der einen Seite stehen nur Autos mit italienischem, auf der anderen nur solche mit slowenischem Kennzeichen. Zudem haben die Italiener längst einen eigenen Bahnhof in der Altstadt. 40 Jahre Trennung haben die laut Historikern 1000 Jahre alte Stadt geprägt.
Und dennoch: Wenn am Feiertag die Vorstadtbewohner einen Familienausflug zum Franziskanerkloster nach Slowenien machen und dabei den Bahnübergang wenige hundert Meter von ihrem Haus entfernt überschreiten, als sei dort nie ein Grenzposten gestanden, ist man unmittelbar froh über die Errungenschaften der Europäischen Union.
Danke, Laura für den interessanten Bericht aus dieser Stadt mit den zwei Gesichtern!
So könnte ich mir Geschichtsunterricht gut vorstellen, Geschichte begreifen ohne “Plötz’sche” Indoktrination…! Lebendig und mit Bezug auf Gegenwärtiges, denn wie schnell wird aus Gegenwart Geschichte…
Schon verrückt, die Kombi Plattenbau und Renaissance in einer Stadt. Danke Benni für das schöne Foto mit dem wunderbaren alten Haus aus dem italienischen Teil!
Liebe Grüße
Mama Michaela