Irgendwo hier soll ein Campingplatz sein. Oder zumindest ein Parkplatz, auf dem Mitteleuropäer wie wir beide, die mit dem Hippiebus in den nordalbanischen Bergen unterwegs sind, übernachten können. So hat es uns der nette junge Mann im Dorf zumindest gesagt. Es wird schon Nacht, die Sicht ist schlecht. Doch da auf dem Hügel: Ist das nicht ein Zeltdach? Und ein Lagerfeuer? Wir parken auf halber Höhe und steigen den Rest hinauf.
Schon auf dem Weg kommen uns lachende Menschen entgegen, unter ihnen Kinder, Erwachsene und Alte. „Hallo! Wie geht’s?“, kommt es von überall aus dem Halbdunkeln auf albanisch, englisch und deutsch. Wir müssen achtgeben, nicht auf Glasflaschen oder anderen Müll zu treten. In leicht unangenehmer Geruch kommt von den alten Dauer-Zelten. Was auch immer das hier ist, ein Campingplatz ist es nicht. Alle leuchtenden Augen sind auf uns gerichtet, Hände uns entgegengestreckt – die Überforderung nach einem langen Tag auf schlaglochreichen albanischen Bergstraßen dürfte uns ins Gesicht geschrieben sein.
Doch die aufrichtige Freude über Besuch lassen sich die Menschen hier nicht vermiesen. Nachdem jeder einmal die Hand gegeben und ein Lächeln ausgetauscht hat, führt uns eine ältere Frau zum Lagerfeuer. „Sitzen, sitzen“, sagt sie in bestimmtem Ton und deutet auf die zwei unversehrtesten umgedrehten Getränkekisten, die neben anderen am Feuer stehen. Nachdem man uns schließlich erfolgreich Zigaretten und zwei Dosen Energydrink schenken konnte, beginnt ein Mann mit schüchternem Blick und zerrissenem T-Shirt zu erzählen:
„Das meine Familie“, er zeigt einzeln auf die Anwesenden in der Runde. „Meine Frau Lida. Meine Mama, mein Papa. Und meine Kinder. Habe vier Kinder. Wir waren in Deutschland, Asyl.“ Der junge Mann heißt Erijon Muhaxhiri und ist 27 Jahre alt, sieht aber zehn Jahre älter aus. Ende 2014 reiste er mit seiner Frau und den vier Kindern in Deutschland ein, im Februar dieses Jahres wurde er wieder zurückgeschickt – wie über 99 Prozent seiner Landsleute. Unter den albanischen Asylantragsstellern in Deutschland sind rund neun Prozent Roma; so auch Familie Muhaxhiri.
„Wir dachten, es würde klappen“, sagt Angelika Matheus später traurig am Telefon. Die 59-Jährige betreute die Familie im bayrischen Dorf Berching während der Zeit der Asylanträge. Sie war lange überzeugt, dem Asylantrag würde stattgegeben werden. „Weil sie sind ja Roma. Das ist schließlich eine benachteiligte Minderheit in Albanien, oder?“
Viele Hilfsorganisationen stimmen Matheus hier zu. Nicht darin, dass die Zugehörigkeit zur Minderheit ein Asylgrund in Deutschland ist. Asyl ist immer eine Einzelfallentscheidung und wird nur für politisch Verfolgte bei Gefährdung von Leib und Leben gewährt. Doch Unicef etwa, Pro Asyl und Amnesty International sind sich einig: Roma werden in vielen osteuropäischen Ländern bis heute stark diskriminiert.
Verlässliche Zahlen zu diesem Thema zu bekommen, ist schwierig bis unmöglich. Zu widersprüchlich sind die verschiedenen Untersuchungsergebnisse. Selbst wie viele Roma überhaupt in Albanien leben, ist unklar. Die Zahlen schwanken je nach Erhebung zwischen 10.000 und 120.000.
Dennoch bemühen sich Nichtregierungsornisationen und öffentliche Stellen, ein paar Fakten zusammenzutragen. Amnesty International etwa wirft den Albaniern Zwangsräumungen von Roma vor und spricht von „unangemessenen Wohnsituationen“. In den Slums, in denen viele der Roma in Albanien leben, gibt es meist keinen Stromanschluss, keine Toiletten, kein fließend Wasser. Unicef spricht von 40 Prozent Analphabeten unter den Roma Albaniens, obgleich das Problem im Rest der Bevölkerung heute fast komplett behoben sei. Nur 25 Prozent der Kinder besuchten die Grundschule. In anderen Erhebungen ist immerhin von 61,4 Prozent die Rede. Rund 75 Prozent der Roma in Albanien werden als sehr arm eingestuft. In der Gesamtbevölkerung liegt dieser Wert bei etwa 22 Prozent.
Ein Blick in die Romaviertel von Shkodër genügt, um diesen Informationen Glauben zu schenken. Auf einer Art Müllhalde am Rande der Stadt, zwischen Fluß und viel befahrener Straße, erstreckt sich die Zeltstadt. Dicht an dicht stehen die mit Fetzen behangenen Ersatzhäuser. Überall Schutt, ein verrosteter Eisenbahnwaggon, ein verwildert aussehendes Pferd mittendrin und viele Menschen.
Wer im kleinen aber respektvollen Bogen um das Slum herumgeht, muss einen verstörenden Eindruck davon gewinnen. Wird er doch umringt von einer Schar bettelnder Kinder in bunten abgetragenen Klamotten. “Mangare, mangare” rufen die Mädchen und Jungen. Ihre kleinen Hände ahmen Essbewegungen nach. Dahinter flattern die kaputten Zeltplanen im Wind.
Doch traut man sich ein Stück näher, ein Lächeln auf dem Gesicht, begegnet man – wie in den Bergen bei Familie Muhaxhiri – ungeahnter Gastfreundschaft. Die Erwachsenen pfeifen die Kinder zurück und dann ist von Betteln keine Spur mehr. Es wird gescherzt und zur Musik eines Autoradios getanzt. „Wie geht’s? Wo kommst Du her?“, fragt es erneut neugierig von allen Seiten. Zu spüren ist vor allem eines: Tiefe Dankbarkeit dafür, dass da jemand kommt, der keine Berührungsangst hat.
Auch die Muhaxhiris wohnten einst im Slum, in der Nähe der albanischen Hauptstadt Tirana. Dann entschieden sie sich für einen Neustart in Deutschland. Nach einigen Monaten im Asylbewerberheim kamen sie in das bayrische Berching – und wurden von Matheus willkommen geheißen.
„Ich habe die Familie am 26. Januar 2015 kennengelernt“, erinnert sich die Flüchtlingshelferin genau. „Alle sechs waren schüchtern und erstaunt, ja richtig überfordert. Licht auf Knopfdruck, fließendes Wasser aus dem Hahn und für jeden ein eigenes Bett – ja selbst für die Kinder. Das hatten sie noch nie gesehen. Sie waren so dankbar.“ Auch wenn die Muhaxhiris heute nicht mehr im Slum leben, sondern nach ihrer Rückkehr nach Albanien auf ihren eigenen kleinen Hügel in den Bergen zogen, fließend Wasser und feste Steinwände mussten sie wieder aufgeben. Die Großeltern teilen sich mit drei Kindern ein Bett: Fünf Menschen schlafen auf etwa zwei mal 1,60 Metern.
Als die Familie bei Matheus ankam, sprach keiner der sechs ein Wort deutsch. „Alle verständigten sich mit Händen und Füßen“, erinnert sich die 59-Jährige. „Aber es ging schnell. Nach drei Monaten konnte sich jeder etwas verständigen.“ Matheus war es wichtig, dass die Neuankömmlinge Kontakt zu den rund 7000 Berchinger Einheimischen aufbauen und bat sie, zu jedem Menschen auf der Straße auf deutsch „Hallo“ zu sagen. „Das hat geklappt“, erinnert sich die Deutsche. „Der Kontakt zu den Nachbarn war toll. Immer wieder kamen Menschen zu Besuch und haben Schokolade oder Spielsachen für die Kinder gebracht.“
In Albanien ergeht es der Roma-Familie anders. Die Kinder finden keine Gleichaltrigen, die mit ihnen Fußball spielen wollen. In seinem schon wieder halb vergessenen Deutsch fällt es Vater Erijon schwer, das alles auszudrücken: „Menschen wollen, wir gehen weg. Mögen uns nicht hier. Ist Rassismus.“
Für Angelika Matheus und ihren Mann Wolfgang sind die Muhaxhiris ein Teil der eigenen Familie geworden. Richtig eng wurde das Verhältnis, als Blero, das dritte Kind der albanischen Familie, einen Unfall im Schwimmbad hatte. „Er wäre fast ertrunken“, erinnert sich Matheus mit belegter Stimme. Erijon fällt es schwer, überhaupt über den Unfall zu sprechen. „In Klinik in Nürnberg. Hat zwei Monate lang nicht aufgemacht”, sagt er, zeigt auf seine Augen und wendet sich schnell ab. Körperliche Schäden hat der Siebenjährige nicht davongetragen, aber geistige. Der Vater macht sich große Sorgen, was aus seinem Jungen werden soll in Albanien.
Auch die dreijährige Mira ist gesundheitlich angeschlagen. Sie hat seit ihrer Geburt Asthma. „Als sie bei uns ankam, hatte die Familie nur noch Medizin für eine Woche und das Kind war völlig am Ende“, erzählt die Flüchtlingshelferin. „Wir haben sie gemeinsam hochgepeppelt. Aber was soll nur im Winter in Albanien mit ihr werden. Da wird das Asthma jedes Jahr schlimmer.“
Erijon berichtet erleichtert, dass es Mira momentan gut geht. In ihrem neuen Zuhause in den Bergen sei die Luft viel besser als damals unter den vielen Menschen bei Tirana. Aber Sorgen macht er sich dennoch, ob sie den notwendigen Inhalator wohl immer werden kaufen können. Roma müssen in albanischen Krankenhäusern meist Bestechungsgelder zahlen, um überhaupt behandelt zu werden.
Der älteste Sohn der Muhaxhiris heißt Dominik. Er ist zehn Jahre alt und seine braunen Augen funkeln, wenn er sich freut. Dominiks Deutsch ist nach zwei Stunden einhören auch nach all den Monaten Pause bemerkenswert gut. In Deutschland haben er und seine ein Jahr jüngere Schwester Esmiralda zusammen die dritte Klasse besucht. Drückt man dem Jungen Buntstifte und Papier in die Hand, die er sonst zur Zeit selten zu sehen bekommt, fängt er bald von alleine an zu notieren: 5+1=6, 10+10=20, 9-2=7.
In Albanien geht Dominik nicht zur Schule. Bei diesem Thema wird Matheus richtig sauer: „Der Junge ist so schlau. Das ist so eine Verschwendung. Durch die Abschiebung wurde er all seinen Zukunftschancen beraubt.“
Warum die Kinder von Erijon und seiner Frau Lida nicht zur Schule gehen, ist nicht wirklich in Erfahrung zu bringen. Wie viele Warum- und Woher-Fragen scheitert auch diese an unüberwindlich scheinenden Barrieren bei denen unklar bleibt, ob sie sprachlicher, emotionaler oder rechtlicher Natur sind. Woher stammt der Strom in Euren Batterien? Warum geht ihr mit dem Kind mit Zahnschmerzen nicht zum Arzt? Und eben vor allem: Warum gehen die vier nicht zur Schule?
Laut einer Veröffentlichung von Unicef und CRCA Albania sind die albanischen Slums oft weit von jeglicher öffentlichen Schule entfernt. Dies ist nicht selten der Grund, warum Roma-Eltern ihre Kinder nach eigenen Angaben nicht zur Schule schicken. Ebenso entscheidend ist, das Vater und Mutter ihr Kind nicht der Diskriminierung durch Lehrer und Mitschüler aussetzen wollen. Auch Geld spielt im von Erpressungsgeldern und Korruption geprägten Land eine Rolle.
Erijon steht der Stolz auf seinen schlauen ältesten Sohn ins Gesicht geschrieben, wann auch immer er ihn ansieht. In Deutschland war es meist Dominik, der beim Arzt oder für Matheus übersetzte. „Sie ist wie Oma für meine Kinder“, sagt der Vater. Er habe die Flüchtlingshelferin sogar gefragt, ob sie Dominik im Falle einer Abschiebung bei sich behalten könne. Damit es ihm gut geht und er weiter zur Schule gehen kann. Die Deutsche war gerührt von diesem Vertrauen und willigte ein. Doch Dominiks Mutter Lida änderte im letzten Moment ihre Meinung: Sie wollte die Familie in solch schwierigen Zeiten nicht auseinanderreißen.
Bis heute versteht Matheus nicht, warum es überhaupt zu der Abschiebung kam: „Da heißt es dann einfach ,Sicheres Herkunftsland’ und weg. Dabei wären die Muhaxhiris dem deutschen Staat nicht zur Last gefallen. Lida hatte eine Job-Zusage. Sie hätte als Haushaltshilfe auf 400-Euro-Basis bei einer Familie arbeiten können. Der Schuhmacher wollte Erijon einstellen.“ Alles sei in den Startlöchern gewesen, alle hätten nur auf die Arbeitserlaubnis gewartet – die bis zuletzt ausblieb.
In Albanien lag die Arbeitslosenquote unter Roma 2002 – aktuellere Zahlen sind nicht zu finden – bei 71 Prozent. Gleichzeitig lag die Rate unter allen anderen Albanern bei 16 Prozent.
Ein Broterwerb ist für Angehörige der ethnischen Minderheit höchstens auf dem Schwarzmarkt zu finden, meist im Handel mit Altmetallen. Hier verdient auch Erijon eigentlich den Lebensunterhalt für seine Familie, seit die sechs wieder im Balkan sind – wäre da nicht sein Rückenproblem. Der Familienvater habe seit seiner Rückkehr schwer tragen müssen, manchmal über hundert Kilogramm, sein Rücken habe da sofort gestreikt, erzählt er. „Doktor sagt, ich darf nicht schwer tragen. Aber was tun? Muss arbeiten“, sagt Erijon seufzend und blickt auf Dominik.
Da fällt Erijon etwas ein. Er holt sein Handy aus der Tasche und zeigt uns ein Foto: Da steht er lächelnd, Arm in Arm mit einem etwa gleichaltrigen Mann, der Hut und Perücke trägt. Vor den Männern stehen Dominik und ein gleichaltriger Junge, ebenfalls in Kostümen. Dominik sieht so ausgelassen und fröhlich aus, als gäbe es auf der Welt nur bunte Verkleidungen, Musik und Kamelle. „Das war Karneval“, ruft Dominik aufgeregt von der Seite, als er sieht, dass sein Vater das Foto herzeigt. „Das ist mein Freund Maxi und sein Vater.“ Und er fügt noch stolz hinzu: „Meine Bart hat mein Vater aufgemalt. Ich als Pirat.“
Auch Matheus hat mit den Muhaxhiris Karneval gefeiert – genauso wie alle anderen Feste. „Sie waren Teil unserer Familie, mein Mann sieht das genauso. Wir haben drei Tage lang geweint, als der Abschiebebescheid kam.“
Für die Zukunft wünscht Matheus der Familie, dass sie nach Deutschland zurückkehren kann. Und wiedermal kommt hier ihr Optimismus durch, der sich schon während des Asylverfahrens zeigte. „Jetzt, wo sich die Asylsituation in Deutschland aus meiner Sicht langsam erholt, wird das gehen. Vielleicht über ein Arbeitsvisum – das ist alles so schwierig. Aber es muss gehen.“
Erijon hat den gleichen Wunsch für seine Familie: zurück nach Deutschland. Aber er ist weniger optimistisch. „Ist schwierig“, sagt er, zuckt mit den Achseln und schaut über den Schutt, die Zelte, die Kochstelle in seiner aktuellen Heimat in den nordalbanischen Bergen.
Damit verabschieden wir, der unverhoffte Besuch aus Deutschland, sich wieder. Bei der Abfahrt steht die neunjährige schüchterne Esmiralda einsam am Hügel und winkt dem Auto hinterher. Stumm drängen sich Fragen ins Gehirn: Warum dürfen wir fast überall hin fahren, und andere nicht? Warum können wir lesen und schreiben, und andere nicht? Und warum ist der faktische Ausschluss von Bildung, Gesundheitssystem und Arbeitsmarkt kein Grund für Asyl in Deutschland? Wo sollte die Einschätzung zur politischen Verfolgung für den erfolgreichen Asylantrag anfangen: Wenn niemand mit den „Zigeunerkindern“ spielen will und mit dem Finger auf sie zeigt? Wenn ein Junge mit Behindeung die ganze Nacht vor Zahnweh schreit, aber der Krankenhausbesuch aufgrund diskriminierender und korrupter Ärzte zu teuer ist? Wenn Vermieter ihre Wohnung nicht für Roma anbieten und der Staat nichts unternimmt? Oder sind das doch alles nur Luxusprobleme, muss es eben doch wie in der aktuellen Gesetzeslage eine Gefährdung an Leib und Leben sein? Muss es erst Bomben regnen? Schließlich will so mancher Europäer derzeit nicht mal die um ihr Leben rennende Syrer aufnehmen. Drückend und schwer begleiten uns diese Fragen, bis über die nördliche Grenze nach Montenegro, und noch weiter von dort.